Konturen im Nebel
Hallo, mein kleiner schwarzer Schmetterling. Du sitzt wieder am Rand meiner Gedanken, dort, wo der Nebel am dichtesten ist und jede Bewegung ein leises Zittern hinterlässt. Deine Flügel tragen keine Farben, nur dieses matte Schwarz, das alles Licht schluckt und dennoch nicht schwer wirkt. Du bist kein Omen. Du bist ein Zeichen. Dafür, dass etwas in Bewegung ist, auch wenn es still bleibt. Der Mondgeist wandert durch diesen Nebel wie ein ferner Wächter. Nie ganz greifbar, nie vollkommen verschwommen. Sein Licht ist kalt, aber nicht grausam. Es tastet die Landschaft meiner Erinnerungen ab, legt Konturen frei, nur um sie gleich wieder dem Grau zu überlassen. Der Mondgeist urteilt nicht. Er beleuchtet, was gesehen werden kann, und lässt ruhen, was noch verborgen bleiben soll.
In diesem schwebenden Zwischenraum beginnt ein Mensch, sich zu verändern. Langsam, fast unmerklich. Masken, die einst Schutz boten, verlieren ihre Spannung. Sie fallen nicht, sie sinken. Zurück bleibt kein fertiges Bild, sondern ein tastendes Wesen, das lernt, sein eigenes Gewicht zu tragen. Der Nebel reagiert darauf, verdichtet sich, fließt um diese Offenheit wie Wasser um eine offene Hand. Der Mondgeist verharrt. Der schwarze Schmetterling schlägt einmal mit den Flügeln. Und aus dem Nebel löst sich eine Gestalt. Zunächst nur ein Umriss, wie mit Kreide in feuchte Luft gezeichnet. Dann eine Bewegung. Eine Hand, die sich langsam vorarbeitet, nicht suchend, sondern prüfend. Ich hielt sie lange für ein Trugbild des Mondgeistes, für eine Projektion all dessen, was man erschafft, wenn Einsamkeit zu laut wird. Doch der Schmetterling bleibt. Er flieht nicht. Und der Mondgeist weicht nicht zurück.
Konturen gewinnen Gewicht. Der Nebel wird nicht klarer, aber ehrlicher. Und mit dieser Ehrlichkeit kommt die Erkenntnis: Es ist kein Geist. Kein Traum. Es ist ein Mensch. Ein Mensch, dessen Tiefe vertraut ist wie ein alter Schmerz. Dieselben Gewässer haben ihn geformt. Dieselben kalten Strömungen aus Verlust, Zweifel und langem Schweigen. Wasser, das nicht ertränkt, sondern langsam in die Knochen zieht, bis man vergisst, wie Wärme sich anfühlt. Verwandtschaft entsteht hier nicht aus Nähe, sondern aus Wiedererkennen.
Der Mondgeist steht nun zwischen uns, nicht als Trennung, sondern als Spiegel. Sein Licht zeigt Narben, keine Wunden. Der schwarze Schmetterling setzt sich auf diesen Raum zwischen zwei Wesen, als würde er prüfen, ob dort Stille trägt. Und sie trägt. Was wächst, ist keine Bindung, die fordert. Es ist ein stilles Geflecht aus Bewusstsein. Verkettet durch das Wissen, dass beide auf einem Weg sind, der nach innen führt. Dass Fragen nicht gestellt werden müssen, um gehört zu werden. Dass Verstehen nicht erklärt, sondern begleitet.
Wir sind Reisende im selben Nebel, aber nicht auf derselben Spur. Unterschiedliche Zeiten, gleiche Tiefen. Während der eine lernt, Masken abzulegen, lernt der andere, sie nicht mehr zu verurteilen. Und irgendwo dazwischen entsteht dieses leise Einvernehmen: Ich sehe dich, ohne dich festzuhalten. Der Mondgeist zieht weiter. Sein Licht verblasst, aber es verlischt nicht. Der schwarze Schmetterling bleibt noch einen Moment, dann verschwindet er im Grau. Der Nebel schließt sich, wie er es immer tut.
Doch etwas hat sich verändert. Nicht die Welt. Nicht der Weg. Nur das Wissen, dass im Nebel kein Geist stand, der mich täuschte. Sondern ein Mensch, der dieselben Wasser kennt…