Geschichten aus den Schatten… Vol. II
Ich glaube, dass ich diese Geschichte, nach der „Stelna & Ludius“ geschrieben habe. Umso mehr mir die Worte durch die Erinnerungen streifen, desto mehr erinnere ich mich an diese Zeit. Sicherlich, der letzte Beitrag ist nur wenige Augenblicke her, jedoch ist es so ein Ding, mit den Erinnerungen. Sie können die wahrgenommene Zeit bis in die Unendlichkeit ausdehnen oder sie komprimieren sich zum Bruchteil eines Augenaufschlags. Auch diese Worte möchte ich teilen… Vielleicht finden diese alten Lettern in dieser Zeit noch neue Anerkennung und Anklang. Auch aus dem Jahr 2011.
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Wenn die See tanzt …
Der See, so magisch wie tückisch, erstreckte sich vor Ludius. Die Flöte an die Lippen gepresst, ließ er seine Finger über die Löcher des Instruments gleiten, um eine Melodie zu gebären, die an die Tage vor dem Riss in der Himmeldecke erinnern sollte. Eine Zeit, so trostlos sie auch gewesen sein mochte, in der alles seinen Platz kannte und die Ordnung im Gleichgewicht lag. Doch jetzt?
Jetzt erinnerten die Sterne an den Bruch des Tischtuchs, und die Erdgeborenen erstarrten vor der Erkenntnis. Zu viel gab es, dem man sich widmen konnte, und doch so wenig, für das es sich lohnte, sich zu verdammen. Warum sollte man sich opfern, um etwas zu erkennen, das die Existenz grundsätzlich verbessern könnte?
Die Melodie aus Ludius’ gläserner Flöte hallte über die Oberfläche des Sees. Er hielt die Augen geschlossen; zum Sehen der Klänge brauchte er nur sein Ohr – und nicht zuletzt sein Herz.
Tage, an die er sich gern erinnerte? Nein, die gab es nicht mehr. Wie viele Stunden hatte er bereits an jenem Fluss gestanden, an dem Stelna sich reinzuwaschen versuchte? Die Versuche – er vermochte sie des Schmerzes wegen kaum noch zu zählen. Kaum war einer getan, erschien das Mal der Erdgeborenen als Fleck auf ihrer Stirn aufs Neue und breitete sich aus wie Feuer unter verdorrten Pflanzen.
Der Wind umwehte sein langes, weißes Haar. Sein Mienenspiel ließ er sich von den umherirrenden Strähnen nicht nehmen. Mit jeder Note, mit jedem Ton durchlebte er die Geschichte neu. Konnte er vergessen? Wer wollte vergessen, wenn sich aus dem Klang der Vergangenheit eine Symphonie für die Zukunft schreiben ließ? Sich reinzuwaschen – ein Unterfangen, das ebenso löblich wie in seinem Fall töricht erschien. Doch schon der Versuch zeigte einen Willen, der nicht bereit war zu brechen.
Das Flötenspiel wurde langsamer, der Wind beruhigte sich. Ein hier und da schwebendes Blatt strich kurz an den Schemen des Elementargeborenen vorbei. Die Lider seiner Augen öffneten sich, und das Waldgrün darin stach hervor – benetzt von einer Melancholie, die seiner Seele entsprang und die kein Bann, den er kannte, zu lindern vermochte.
Worte hallten in seinen Ohren. Kapitel, die er nach und nach geschlossen hatte, auch wenn der Schlüssel zu nah lag, um sie gänzlich zu verriegeln. Er blickte auf die tanzende Oberfläche des Sees, die sich im Einklang mit dem Takt des Windes bewegte. Der letzte Tanz, das letzte Mahl, der letzte Fleck auf seiner Reise.
Sein Blick fuhr zu dem Riss in der Himmelscheibe. Hinter dem Riss lag das Leiber-, das Lichterspiel der Sterne. Hinter den Sternen – nur weitere Fragen, für die es sich stets lohnte, eine Antwort zu suchen.
Das größte seiner Mysterien? Wie sollte er einen tanzenden Stern dazu bewegen, die Hülle der Erdgeborenen abzustreifen und seine wahre Form wieder anzunehmen, wenn er doch wusste, dass dieses Leben sich in die strahlende Seele jenes Wesens eingebrannt hatte?
Er hob erneut das gläserne Instrument, schloss die Augen und spielte die Melodie, die unter den geschlossenen Lidern Tränen erweckte.
Dies war das Tagebuch der Sterne, der Weg der vollkommenen und letzten Wege. Ludius, das Phantom aus den Elementen, und Stelna, der Stern, der unter den Erdgeborenen zu dem wurde, was alle von ihr verlangten zu sein – ein Stern, der nicht imstande war zu tanzen.
Der Deckel, der den Himmel vom Antlitz der Erdgeborenen trennte, war seltsam. Er schien widerzuspiegeln, was dahinter verborgen lag. Schlussendlich spiegelte er jedoch nur das, was die fast blinde Rasse der Erdgeborenen sehen sollte. Erst der Riss – vielleicht durch das Alter der Scheibe selbst entstanden – gewährte einen Blick auf einen Teil der Wahrheit.
Die Flüsse, die Arme des Sees, an dessen Ufer Ludius Tag ein, Tag aus stand, verweigerten die Reflexion des Deckels. Nur ein Arm, ein Fluss, an dem er Stelna jeden Tag stehen sah, spiegelte den befriedenden Schimmer der Sterne auf seiner Oberfläche. Ludius wagte nicht, den Blick zum Riss zu erheben. Ebenso wenig wagte er, sich dem Ufer zu nähern, an dem Stelna wartete. Er fürchtete sich nicht – doch wer konnte sagen, wie oft ein Herz zu brechen imstande war? Er wusste nichts über sein Herz, nur vom Schmerz der Enttäuschungen und dem Stich unter seiner Brust, den er damit verband. Kaum dachte er daran, setzte der süße, vertraute Stich wieder ein und unterbrach sein Flötenspiel. Die Hand, die die Löcher der Glasflöte bedeckt hatte, fuhr an seine Brust.
„Ruhig, mein Herz, es sind nur Erinnerungen.“
Warum musste er überhaupt ein Herz haben? Die Erdgeborenen hatten keines – und vermissten es ebenso wenig. Sein Blick glitt zurück über den See, als der Stich abklang. Die Oberfläche wirkte unruhig. Seine Verbindung zu den Elementen war ein Fluch, den er nicht missen wollte. Die Flut der Gedanken riss ab, als ein leises Tapsen an seine Ohren drang. Er drehte sich um – der Blick auf die kleine Entität gerichtet, die sich vorsichtig an den Flötenspieler heranschlich.
„Hmm?“, entwich es seinen Lippen. Ein kleines Erdgeborenes, das Haar schwarz, vielleicht vor zehn Drehungen des Himmelsdeckels erschaffen. Sie blieb stehen und lächelte Ludius an. Stolz hob sie die Hand, in der sie einen sorgfältig bearbeiteten Stab mit Löchern präsentierte. Eine Flöte?
„Wie heißt du?“, fragte Ludius. Das Lächeln der Kleinen wurde breiter, sie nickte heftig. „Kitana, mein Herr!“
Kitanas Aussehen war für Erdgeborene untypisch. Doch wann hatte Ludius zuletzt einen so jungen Erdgeborenen gesehen? Vielleicht veränderte sich ihr Äußeres mit den Drehungen des Himmelsdeckels. Er wusste, wie sie auf die Oberfläche kamen, aber nicht, wie sie sich entwickelten – und genau genommen wollte er es auch nicht wissen.
„Bringst du mir das bei, mein Herr?“ Die Augen, weiter geöffnet als der Riss in der Himmelsdecke, rückten näher.
„Was – das Spiel des Windes?“ Wollte sie wirklich, dass Ludius sie das Flötenspiel lehrte? Immerhin hatte sie sich offenbar selbst eine Flöte geschnitzt. Er deutete auf das Instrument in Kitanas Hand, worauf sie näher kam und es ihm reichte.
„Hast du die selbst gemacht, Kitana?“
Stolz, mit schimmernden Augen, streckte sie ihm die Handflächen entgegen. „Ja, ganz allein, mein Herr!“
Ludius konnte seine Bewunderung nicht verbergen. Seine Flöte war ein Geschenk der Elemente gewesen; er wusste nicht, wie man sie selbst herstellte.
„Wer hat dir das beigebracht?“
Sie schüttelte den Kopf. „Niemand, mein Herr. Ich habe es bei dir gesehen, mein Herr.“
Ludius stutzte. „Und dann hast du dir selbst eine geschnitzt?“
Wieder nickte Kitana, die Brust geschwellt vor Stolz.
Sollte er sie lehren – sie in seine Lieder und damit in seine Geschichte einweihen? Wie sollte eine so junge Erdgeborene das verstehen? Er dachte nach, blickte auf seine Flöte und nickte sacht. Es ging nur um das Flötenspiel, und Geschichten kannte er genug.
„Dann werde ich dich lehren, Kitana.“
Er streckte ihr die Hand entgegen und gab ihr die Flöte zurück, die sie freudig annahm.
Er legte seine Flöte an die Lippen, schloss die Augen und drehte sich dem See zu. Er begann das Spiel mit dem Wind, und auf der ruhigen, glatten Oberfläche formten sich Bilder von Stelna, wie sie am Fluss stand und auf das Wasser blickte. Das Spiel brach ab; er öffnete die Augen und sah zu Kitana.
„Ich lehre dich eine Geschichte – die, in der das Spiel des Windes wohnt.“
Kitana stellte sich neben ihn, nahm die hölzerne Flöte in die Hand und blickte auf Stelnas Abbild.
„Sie ist wunderschön“, stellte Kitana fest. „Wer ist sie?“
Ludius’ Blick wurde schwer, die Flöte sank. „Sie ist der tanzende Stern.“
„Ein tanzender Stern?“ Kitanas Miene wirkte fragend.
„Sie ist das Licht, das aus dem Riss der Himmelscheibe fällt. Das strahlendste aller Wesen.“
„Und warum schaust du dann so, mein Herr?“
Ludius schwieg lange. Dann legte er die Flöte wieder an. „Weil sie verloren ist, Kitana.“
Sie war verloren – ja, das war sie in der Tat. Wie es dazu gekommen war? Eine Verkettung nach der anderen. So sehr Ludius diesen Stern wieder in voller Pracht am Himmel tanzen sehen wollte, so sehr fragte er sich, was die Schöpfer sich dabei dachten.
Obgleich der Stern im Herzen des Flötenspielers wohnte und sein Tanz sich in Ludius’ Geist eingebrannt hatte, musste er versuchen, ihn zu vergessen. Warum?
Der Fleck würde bis zum Ende des Himmelsdeckels auf Stelnas Stirn verweilen. In jedem Moment, da das Wasser sie berührte, wusch es den Schmutz von ihrer matten Hülle und ließ das Strahlen ihrer wahren Natur kurz aufglimmen – nur um gleich wieder zu verlöschen.
„Wie kann ein Stern nur so verkommen?“, dachte er, während er Melodien des Wehmuts aus seiner Flöte schuf.
Kitana erwies sich als begabt. Er zeigte ihr nicht, wie man das Instrument nutzte – gelernt hatte er es nie, er konnte es seit seiner Erschaffung. Ludius, das erste Wesen, das aus allen Elementen geboren war, war anders als die Erdgeborenen. Man hatte ihm mehr in die Wiege gelegt als nur ein Herz. Ein Fehler der Schöpfer, so nannte er es stets.
Sie spielte Note um Note nach. In Kitanas Gedanken formten sich die Erinnerungen, die Ludius mit diesem Lied verband. Sie sah einen schmalen Pfad am Fluss, hörte das herzhafte, aufrichtige Lachen ihres Lehrers und das der Frau, die sie eben noch auf der Oberfläche des Sees erblickt hatte. Die Bilder verschwammen unter dem Lachen der Gestalten.
Ludius betrachtete sie nicht; sie folgte einfach dem Spiel. Doch etwas war anders als zuvor. Der Wind – warum schwieg er? Die Melodie erstarb, seine Arme sanken, und sein Blick fiel auf den Arm des Sees, der sich zu jenem Fluss erstreckte, an dem sich der Riss spiegelte und an dem Stelna auf ihn wartete.
„Warum rufst du noch immer nach mir?“, seufzte er und legte die Hand an die Stirn.
Kitana hatte ebenfalls aufgehört zu spielen. Sie ließ den Blick auf Ludius ruhen, schwieg und legte den Kopf nachdenklich schief.
Stelna stand am Fluss und blickte auf die Oberfläche des Wassers. Ihr Blick wechselte zwischen der Reflexion und dem Riss in der Himmelsdecke. Sie verstand nicht, warum Ludius nicht mehr kam – warum er so oft nur am anderen Ufer stand und kein Wort sprach. Hatte sie einen Fehler begangen? Für sie war alles so normal, wie es nur sein konnte. Ludius hatte ihr versprochen, sie wieder an den Himmel zu tragen, sobald sie den Fleck von sich ablassen konnte – doch mit jedem Versuch kehrte er zurück.
Stelna war der tanzende Stern, der aus Neugier durch den Riss geblickt hatte, als er entstand, und in das Reich der Erdgeborenen fiel. An der Oberfläche nahm sie deren Gestalt an. So ähnlich die Form auch war – das Strahlen ihres Wesens blieb das eines Sterns. Der von den Schöpfern benannte König Dolor ließ Stelna zu sich bringen, kaum dass sie gefallen war. Unschuldig und verwirrt folgte sie und ließ sich von ihm biegen, sich auf ihn prägen. Anfangs ließ er sie immer wieder, fast rituell, mit Schmutz benetzen, damit die Schöpfer nicht erkannten, dass ein Stern in seinem Besitz war. Art und Gepflogenheiten, Umgangsformen und Verhalten – all das wurde ihr eingeprägt, als sei sie von den Schöpfern selbst in diese Hülle gesetzt worden.
Ludius erkannte, was in ihrem Inneren verborgen lag. So oft schon hatte er sie erlösen wollen, sie dorthin zurückbringen, wo sie hingehörte – durch den Riss zurück in das Bild des Himmels.
So stand Stelna nun erneut am Fluss. Sie dachte an Ludius – doch wo war er? Sonst war er immer gekommen, wenn Stelna seine Melodie summte. Warum nun nicht? Stelna erkannte keinen Makel an ihrem Verhalten; sie wusste nicht, was Ludius davon abhielt, an den Ort des Versprechens zurückzukehren. Das Gefühl, das in ihr aufstieg, kannte sie nicht. Also wartete sie – und summte Ludius’ Melodie. Sie, der tanzende Stern, das Leitbild des Flötenspielers, wartete.
„Ein Fehler nach dem anderen …“ Ludius stockte. Seine Erinnerungen pochten wie ein Splitter unter der Haut – einer, den er nicht herausziehen konnte. Zu gern erinnerte er sich an den Tanz des Wesens, das sich in seine Welt gebrannt hatte.
Kitana machte einen Schritt auf ihn zu und hob die Flöte wieder. Während Ludius in seinen Gedanken nach einem Ausweg suchte, begann Kitana zu verstehen.
„Mein Herr?“ – doch keine Reaktion.
Hier, an diesem See, lag sein Ort der Erinnerung. Kitana entschied sich zu gehen. Sie wollte zu jenem Arm des Sees, an dem sich der Riss spiegelte. Sie wollte ihn sehen – den Ort, an dem Ludius’ Leid geboren worden war. Er bemerkte nicht, dass sein kleiner Schützling sich entfernte. In seinen Gedanken weilte er in diesem Moment bei ihr – bei dem Stern, dem die Melodie des Lebens, der Liebe, des Vertrauens versagt zu bleiben schien.
Kitana wanderte, ohne zu wissen, wohin. War es klug, allein zu ihr zu gehen – zur Verlorenen? Sie wankte ein wenig, doch war sie entschlossen genug, dem Herrn, der ihr die Kunst der Musik lehrte, einen Tribut zu zollen.
Immer wieder war Kitana an den See gekommen und hatte den Klängen gelauscht, die aus Ludius’ Instrument und Erinnerungen strömten. Bilder, die der Wind auf der Oberfläche formte, erzählten, was er erlebt haben musste. Was genau zwischen dem Stern und dem Flötenspieler geschehen war, blieb bruchstückhaft – und offen gestanden interessierte sie die Musik mehr als die Handlung der Bilder.
Jetzt jedoch, da sie das Leid in seinen Augen gesehen hatte, begriff sie, dass es um weit mehr gehen musste als nur um das Versagen, den Stern nicht an seinen Platz am Himmel zurückgetragen zu haben.