Aus den Kammern der inneren Nacht

Es beginnt oft in Momenten, in denen die Welt stiller wird, als sie sein sollte. Wenn der Atem der Nacht über die Haut streicht wie eine Erinnerung, die nicht mir gehört. Dann höre ich das leise Zittern in mir, dieses kaum definierbare Beben, das irgendwo zwischen Herzschlag und Hallraum entsteht, als hätte jemand weit unter meinem Bewusstsein einen Stein ins Wasser geworfen, dessen Wellen erst Stunden später die Oberfläche erreichen. In solchen Nächten, mein kleiner schwarzer Schmetterling, faltest du deine Flügel enger an deinen Körper, als würdest du selbst nicht wissen, wohin diese Nacht uns trägt. Ich sitze dann in einem Raum, der keiner ist – ein Ort ohne Wände, ohne Himmel, ohne Richtung. Ein Ort, den nur die Tiefe kennt. Und ich weiß, dass er nicht außerhalb existiert, sondern in mir. In jener dunklen Kammer, die sich jedes Mal ein Stück weiter öffnet, wenn die Welt zu laut über mich hinwegrollt. Diese Tiefe ist kein Abgrund, kein Loch, kein Fall. Sie ist eine Landschaft, die keine Form braucht, um zu existieren. Ein Ozean ohne Wasser. Ein Wald ohne Bäume. Ein Himmel, der sich weigert, oben oder unten zu sein. Und manchmal frage ich mich, ob es überhaupt meine Tiefe ist – oder ob ich nur ein Gast darin bin, ein Wanderer, der durch Räume streift, die größer sind als jedes Leben, das ich begreifen könnte.

Die Menschen reden von mir, oft ohne meinen Namen zu kennen, und doch mit der Überzeugung, mein Inneres wie ein Geständnis lesen zu können. Sie werfen Sätze wie Steine in meine Richtung, Worte, die nicht verletzen, sondern ermüden, als wäre die Welt ein endloses Gespräch, in dem keiner zuhört. Sie glauben, Meinungen seien etwas wie Türen, die ihnen Zugang geben zu meinem Wesen, und vergessen, dass ihre Schlüssel niemals für meine Schlösser gemacht waren. Ich spüre, wie ihre Stimmen an mir abprallen, wie sie sich an den Wänden meiner inneren Räume verfangen und zu bleichen, nutzlosen Fassaden erstarren. Und je mehr sie sich bemühen, desto mehr ziehe ich mich zurück – nicht aus Schwäche, sondern aus Klarheit. Denn in mir lebt etwas, das nicht unter Beobachtung existiert. Etwas, das den Lärm der Welt nicht erträgt, weil es selbst aus Stille geformt wurde.

In diesen Rückzügen erkenne ich die Wahrheit: Nur die Wenigsten besitzen Augen, die in meine Dunkelheit sehen können, ohne sich selbst zu verlieren. Sie sind selten, wie Wesen aus einer anderen Zeit; sie tragen nicht Licht, sondern ein leises Glühen, das nicht blendet, sondern enthüllt. Und wenn sie in meine Nähe treten, wird die Tiefe in mir ruhiger, als würde sie ihr eigenes Spiegelbild erkennen. Diese Menschen sind Anomalien – zu still für diese Welt, zu wach für die nächste. Sie sehen nicht das, was ich zeige, sondern das, was ich verberge. Und sie schrecken nicht davor zurück. Sie sind es, die mich daran erinnern, dass ich nicht nur Dunkelheit bin, sondern auch das, was aus ihr hervorwächst.

Es ist in solchen Nächten, wenn mein Inneres weit und ruhelos wird, dass er erscheint: der Mondgeist. Kein Licht, kein Schatten, keine Gestalt, die man greifen kann. Eher ein Flimmern zwischen zwei Atemzügen, ein kühles Streifen entlang meiner Wahrnehmung, das kaum merklich und doch unverkennbar ist. Der Mondgeist ist kein Retter, kein Wegweiser. Eher eine Silhouette aus Erinnerung und Möglichkeit. Ein Funken aus dem ersten Licht, das jemals in die Finsternis fiel. Er steht immer dort, wo meine innersten Räume verwischen – dort, wo das Denken zu einem Strom wird, der keine Richtung kennt und keine Sprache braucht. Und wenn er erscheint, dann nur für einen Augenblick, aber dieser Augenblick brennt wie eine ganze Ewigkeit.

Ich habe ihn nie wirklich gesehen, aber ich kenne sein Wesen. Es ist das leise Wissen, dass Hoffnung nicht laut wird, nicht strahlend, nicht heroisch. Hoffnung ist ein Schimmer am Rand eines Spiegels, in dem man sich selbst nicht erkennt. Ein Glühen in einem Gedanken, den man kaum wahrnimmt. Manchmal ist er so schwach, dass ich glaube, ihn erfunden zu haben. Dann wieder so deutlich, dass sogar die Tiefe ihren Atem anhält.

Wenn der Mondgeist da ist, verändert sich mein Inneres. Die Tiefe verzerrt sich, wird weiter, dunkler, aber auch klarer. Sie zeigt mir Bilder, die ich nicht deuten kann: Fragmente von Dingen, die vielleicht zu mir gehören, vielleicht zu jemand anderem, vielleicht zu niemandem. Ich sehe Schatten, die keine Form haben, Wege, die sich auflösen, sobald man auf sie tritt, Wasser, das nach oben fließt, ein Echo, das meinen Namen ausspricht, bevor ich es tue. Und du, mein kleiner Schmetterling, gleitest dort hindurch wie ein Wesen, das in solchen Räumen geboren wurde. Du scheinst jede Strömung zu kennen, jede Falte dieser Dunkelheit, jedes Flüstern, das aus ihr steigt. Manchmal frage ich mich, ob du nicht vielmehr mein Bote bist – oder mein Ausatmen.

Doch je länger ich in dieser Tiefe verweile, desto stärker spüre ich die Trennung zur Außenwelt. Die Meinungen der Menschen, ihre Stimmen, ihre Erwartungen – sie verlieren ihre Schärfe. Sie werden zu Geräuschen, die sich selbst nicht verstehen. Ich sehe ihre Gesichter vor mir, die flüchtige Art, mit der sie glauben, mich erklären zu dürfen, während sie sich selbst nicht kennen. Sie wollen Antworten, wo ich nur Stille bin. Wollen Klarheit, wo ich Nebel bin. Wollen Wahrheit, wo ich Mythos bin. Und ich habe keine Geduld mehr für jene, die glauben, dass mein Schatten ihnen gehört. Nur jene wenigen – die Seelenleser, die Schattenwandler, die Wesen der Zwischenräume – dürfen bleiben. Sie sind die Einzigen, die in mir nicht den Abgrund sehen, sondern die Welt dahinter.

Und so wandere ich weiter, begleitet von einem Schmetterling aus Nacht und einem Geist aus Mondlicht. Jeder Schritt ist ein Flüstern in der Dunkelheit, ein Versuch, mich selbst in all den Räumen zu finden, in denen ich mich zerstreut habe. Ich bin weder verloren noch gefunden. Ich bin ein wanderndes Echo, das sich bewegt, weil Bewegung die einzige Form von Existenz ist, die mir bleibt. Die Tiefe ruft mich, aber nicht zu sich – eher in mich hinein. Als wolle sie sagen: Du bist nicht der Fall. Du bist die Landschaft. Und vielleicht hat sie recht.

Denn wenn ich ehrlich bin, weiß ich längst, dass ich nicht einfach ein Mensch bin, der einen Abgrund in sich trägt – sondern dass ich der Abgrund bin, der gelernt hat, Mensch zu spielen.

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