Erwägungen

Hallo, mein kleiner schwarzer Schmetterling. Es ist lange her, ich weiß. Und doch, in diesen Stunden des Bedenkens und Ermahnens ist es mir eine Pflicht diese Worte auf die verwitterten Seiten dieses Buches zu bringen, welches Du in aller Heimlichkeit so verschlingst.

Weiß Du, die Nebel die mich umgeben waren schon immer dar. Eine Flut aus Gedanken, Leid, Schmerz – Ein steter Kampf um die Vorherrschaft meines Bewusstseins. Sie legen sich in alle Poren meines Körpers und definieren schon seitdem ich denken kann mein Handeln. Das meiste war stets in den Nebeln verborgen. Klamme Finger die nach etwas greifen, was jedoch stets an der Oberfläche abrutscht und kein Verharren sieht. Kein Erkennen. Kein Besinnen. Es waren immer die Kämpfe des Seins die ich bestritt. Ein stilles Hoffen auf Ruhe und ein einsamer Wunsch nach Vernunft. Doch nichts davon war ich je und auch nie gänzlich. Immer ein Schatten einer Person, die nur die raue See kennt und nichts anderes kennenlernen will.

So auch jetzt, mein kleiner Mondgeist, der fernab dieser Pfade lauert. Ich kenne die Namen die geflüstert werden und auch ihr Wesen kenne ich gut. Ich habe sie alle kennengelernt. Hochmut, Habgier, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid und Trägheit – Doch ein Streiter war mir immer eine Fremde Gestalt, die ich niemals kennenlernen musste – Eifersucht. Unserer Wege trafen sich nie und sollten es auch nie. Doch, kommen wir zurück zu diesem Gespinst der Gedanken, welches seinen Weg durch die Tinte auf der Spitze dieser Feder auf die Seiten findet. Das Leben kennt seine Regeln, seine Balance und sein sein. Der Mensch kennt kaum seine Grenzen und legt die Waagschalen immer und immer wieder auf einen unaushaltbaren Prüfstand. Ich selbst war stets aus dem Gleichgewicht – Nahezu immer. Nur einen Schritt davon entfernt, die Schwelle zum Wahnsinn zu machen. Kaum eine Situation in meinem Leben schenkte mir Ruhe. Kein Mensch konnte mir je dieser Anker sein, bei dem ich die Fahrt auf diesem launischen Element unterbreche. Umso beängstigender scheint es, wenn dort etwas in den Nebeln lauert, was eben genau dieses Gefühl wecken könnte. Eine Gestalt von so diffuser Art, dass ich kaum mehr daran denken möchte, was ein Traum sein sollte, aus dem man erwachen kann.

Ich habe mein Sein so oft neu geschmiedete. Bin unter dem Feuer des Lebens weich geworden und härter erkaltet. Die Waage Natur meiner Antworten, mein Schild und meine Mechanismen des Rückzuges diensten mir stets gut. Ich wollte nie so „offen“ sein, wie ich immer tat. Ja, ich war offen. Ja, ich teile meine Seele. Doch nur das, was meine Augen ohnehin nicht verbergen könnten. Tief, tief in mir drinnen, lauert noch immer diese alte, klaffende Schmerz. Es ragen alte Wunden unter hartem Metall. Die Elemente arbeiten Tag um Tag an meiner Hülle. Nicht was ich je ändert wollte, auch wenn es da im tiefsten innern einen leisen, unausgesprochenen Wunsch gab. Doch das ist schon so lange her, dass ich mich nicht einmal daran erinnere. Weißt Du, manchmal stelle ich mir, sehr theatralisch vor, dass ich ein Uraltes Wesen der Unsterblichkeit bin, das nur aus Gewohnheit isst, schläft, trinkt, liebt – Doch schmeckt alles nach Staub und Verfall und keine Melodie will meine Seele recht erwecken, geschweige denn erreichen.

…Und doch, trotz all dieser Rituale des Weiterlebens, trotz der Masken, die ich mir mit routinierter Hand aufsetze, geschah etwas, das ich nicht vorgesehen hatte. Etwas, das ich nicht geschmiedet, nicht berechnet, nicht abgewehrt habe.

Ich begann. Nicht laut. Nicht mutig. Kein Neubeginn, der Fahnen schwenkt oder Versprechen ruft. Es war eher ein leiser Riss in der Oberfläche meiner Gewohnheiten. Ein kaum hörbares Knacken im Gefüge dessen, was ich mir über Jahre hinweg als sicher eingeredet hatte. Ich begann, ohne es so zu nennen. Ein Gedanke, der länger blieb als sonst. Ein Atemzug, der nicht sofort im Nebel verschwand. Ein Moment, der nicht gleich bekämpft werden wollte. Und in eben diesen Nebeln, mein schwarzer Schmetterling, stand jemand. Kein Retter. Kein Spiegel. Kein Sturm. Nur eine Anwesenheit. Still. Unaufdringlich. Ein Mensch, nicht mehr und nicht weniger. Kein Anspruch, keine Forderung. Nur da. Und gerade darin lag das Ungeheure. Denn diese Ruhe, die sich nicht aufdrängt, ist mir fremder als jedes Chaos. Sie ist kein Frieden, den man erringt, sondern ein Zustand, der einfach geschieht. Und genau das ist es, was mir Angst macht. Eine Angst, die nicht schreit, sondern flüstert. Die nicht drängt, sondern wartet. Eine Angst vor dem Stillstand, vor dem Moment, in dem nichts mehr bekämpft werden muss, weil nichts angreift.

Ich habe gelernt, im Lärm zu existieren. In der Reibung. In der ständigen Bewegung zwischen Zweifel und Trotz. Ruhe hingegen ist ein offenes Feld. Ohne Deckung. Ohne Rüstung. Wer dort steht, steht sichtbar. Und Sichtbarkeit war nie meine Stärke, auch wenn ich mich stets so gab, als sei sie mir gleichgültig. Dieser Mensch in den Nebeln tut nichts weiter, als zu sein. Und gerade dadurch verschiebt sich etwas in mir. Die Nebel lichten sich nicht. Sie werden nur… langsamer. Zäher. Als hätten sie vergessen, wohin sie eigentlich treiben wollten. Und ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass ich nicht sofort fliehen möchte. Dass ich bleibe. Einen Herzschlag länger, als mir lieb ist. Vielleicht ist das der Anfang, von dem ich schreibe. Kein Aufbruch, kein Ziel. Nur das Eingeständnis, dass ich etwas begonnen habe, das ich nicht kontrolliere. Dass ich zugelassen habe, dass Ruhe existieren darf, zumindest als Möglichkeit. Und dass mir genau diese Möglichkeit mehr Furcht einjagt als all die Stürme, die ich je überlebt habe.

Vielleicht ist es genau das, was mich hilflos macht. Nicht Schmerz. Nicht Nähe. Dieses Fühlen. Es setzt ein, ohne zu fragen, ohne Vorwarnung. In der Nähe dieses Mondgeistes verliere ich Halt. Nicht auf einen Schlag, sondern schleichend. Mein Panzer, den ich mir über Jahre gebrannt habe, beginnt zu reißen. Wie Ton, der zu schnell getrocknet wurde. Erst feine Linien. Dann Splitter. Ich höre es knacken, lange bevor etwas sichtbar zerbricht. Dieser Mensch fordert nichts. Er lenkt mich nicht. Er will nichts von mir. Und genau das ist das Gefährliche. Denn etwas in mir, tief unten, wo lange nichts war außer Routine und Abwehr, wird wach. Kein Begehren. Kein Ziel. Eher ein dumpfes Wissen, dass hier etwas liegt, das ich nie gesucht habe, weil Suchen immer Verlust bedeutete. Ich fühle mich ungeschützt. Nicht entblößt, sondern offen. Durchlässig. Als hätte das Fühlen selbst beschlossen, zurückzukehren. Und ich merke, wie sehr ich es schätze. Wie sehr ich es brauche. Wie sehr es mir schadet.

Denn was hier entsteht, kann mich brechen. Nicht laut. Nicht dramatisch. Sondern endgültig. All das, was mich zusammenhält, all meine Schichten, all meine Mechanismen verlieren an Gewicht. Es gibt keinen Angriff, gegen den ich mich wappnen könnte. Nur diese Ruhe. Und sie ist gefährlicher als jeder Sturm, den ich je kannte. Ich weiß nicht, ob ich bleiben kann. Aber ich weiß, dass ich nicht mehr so tun kann, als wäre nichts geschehen. Vielleicht ist das der Anfang. Kein Aufbruch. Kein Versprechen. Nur die Erkenntnis, dass selbst die Nebel eine Stille haben, vor der man sich fürchten muss, wenn man sie einmal gefühlt hat.

Denn was, wenn die Nebel nicht mein Feind sind, sondern mein Schutz? Und was, wenn dieser Mensch nichts anderes tut, als mir einen Blick auf das zu schenken, was darunter liegt? Ich schreibe diese Zeilen nicht als Bitte und nicht als Warnung. Nur als Spur. Für mich. Für dich, mein Mondgeist. Und für all jene, die wissen, wie laut Stille sein kann, wenn man sie zum ersten Mal wirklich hört.

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