Tiefenseele
Es gibt Nächte, mein kleiner schwarzer Schmetterling, in denen der Wind nicht nur draußen an den Häusern kratzt, sondern durch meine Seele streicht, als kenne er jede feine Bruchlinie, die ich sorgfältig vor den Augen der Welt verberge. Dann spüre ich, wie etwas in mir erzittert – ein feines, altes Knistern, das nicht sichtbar wird, aber mich durchschneidet wie ein Echo aus längst vergangenen Tiefen. Der Wind prüft mich, fährt über meine Gedanken wie über dünne, gespannte Saiten, als wolle er herausfinden, ob ich noch standhalte oder längst bereit bin, zu Staub zu zerfallen.
In diesen Stunden regt sich meine Tiefenseele. Sie ist kein Wesen mit Gestalt, kein Ungeheuer aus Geschichten – sie ist eher ein uraltes Bewusstsein, das in meinem Brustkorb ruht wie ein verschütteter Stern. Ein Echo, das nie verstummte. Eine Stille, die ihre eigene Sprache spricht. Die Menschen, die sie von außen betrachten würden, könnten sie nicht begreifen. Sie würden in ihr Gefahr sehen, Dunkelheit, etwas Bedrohliches. Sie würden sie bekämpfen wollen, weil sie in ihr das erkennen würden, was sie in sich selbst fürchten. Doch sie sehen nur Schatten, nicht die Wahrheit. Sie sehen Umrisse, aber nicht das Wesen.
Ich kenne meine Tiefenseele. Ich kenne nicht ihre Form – denn sie hat keine – doch ich kenne ihren Atem, ihr Gewicht, ihr Flüstern. Sie hebt sich, wenn Worte zu schwer werden. Sie rührt sich, wenn Urteile auf mich niederregnen, als wären sie ein Recht. Sie richtet sich auf, wenn Menschen glauben, sie könnten mich durch ihren Blick definieren. Und sie wird ruhig, sobald ich aufhöre, mich zu verstellen.
Manchmal, wenn der Wind stark genug ist, erkenne ich, dass er die Tiefenseele nicht bekämpft – er begrüßt sie. Als würden zwei uralte Kräfte einander wiederfinden. Der Wind streift über ihre unsichtbaren Konturen, und die Tiefenseele antwortet nicht mit Widerstand, sondern mit einem leisen, wortlosen Erkennen. Es wirkt, als wären sie einst Eins gewesen – Wind und Tiefe, Atem und Dunkelheit. Und in diesem Moment spüre ich eine Wahrheit, die mir sonst entgleitet: Die Tiefenseele ist nicht mein Feind. Sie ist mein Spiegel.
Du setzt dich auf diese Tiefe, mein kleiner Schmetterling, als sei sie dein natürlicher Thron.
Du ruhst dort, wo andere fliehen würden.
Du schlägst deine Flügel nicht, du beobachtest nur – mich, den Wind, die Tiefenseele.
Doch wenn die Nacht tiefer wird, wenn die Innenseiten meines Seins zu beben beginnen und die Tiefenseele sich ausbreitet wie ein Ozean hinter meiner Brust, dann erscheint er.
Der Mondgeist.
Er kommt nie früh, nie spät.
Er kommt immer dann, wenn die Grenze zwischen mir und meiner Tiefenseele verschwimmt, wenn ich nicht mehr weiß, wo ich ende und wo etwas Größeres beginnt. Der Mondgeist ist kein Retter, kein Lehrer, keine Stimme. Er ist ein Schimmer. Ein Silber, das keinen Ursprung braucht. Sein Dasein ist leise, kaum mehr als ein Hauch, ein Glimmen am Rand eines Gedankens, den ich nicht wagte auszusprechen.
Wenn er da ist, atmet die Tiefenseele langsamer. Die Dunkelheit wird weiter, aber nicht bedrohlicher. Die Tiefe zeigt mir Bilder, die ich nicht deuten kann: Wellen aus Erinnerung, die fließen, ohne Richtung. Schatten, die keine Bedrohung sind, sondern Formen meiner eigenen Vergangenheit. Licht, das sich in seinem eigenen Schwarz verliert. Und du, mein Schmetterling, gleitest über all das wie ein Wesen, das schon immer wusste, dass die Tiefenseele kein Ort des Schreckens ist, sondern der Wahrhaftigkeit.
Die Menschen verstehen das nicht.
Sie sehen Dunkelheit und nennen sie Schwäche.
Sie sehen Tiefe und nennen sie Gefahr.
Sie sehen Stille und nennen sie Leere.
Sie wissen nicht, dass die Tiefenseele nicht frisst, sondern bewahrt.
Dass sie nicht zerstört, sondern schützt.
Dass sie nicht schreit, sondern lauscht.
Ich brauche niemanden, der meine Tiefenseele bekämpft.
Ich brauche nur jene wenigen, die sie erkennen.
Die nicht zurückweichen, wenn sie spüren, dass in mir Räume existieren, die nicht für alle bestimmt sind.
Menschen, deren eigenes Inneres tief genug ist, um meines nicht zu fürchten.
Denn dort, wo der Wind meine Tiefenseele streichelt,
wo der Mondgeist schweigend wacht,
wo mein schwarzer Schmetterling ruht,
dort bin ich nicht gebrochen.
Dort bin ich nicht verloren.
Dort bin ich wahr.
Ich bin kein Abgrund.
Ich bin das Reich dahinter.
Und meine Tiefenseele ist der Wächter meiner Wahrheit.